Tour 07: Zum Fagus-Werk
Mit Rückenwind zu Merkels Schuhen
Von Sara Reinke
Das Fahrrad weiß, wo es langgeht. Und nicht nur das: „Vorsicht!“, mahnt eine forsche Frauenstimme aus Richtung Lenkrad jedes Mal, wenn sich Georg Körner einer Kreuzung nähert. Als die resolute Dame dann aber anfängt, mit ihm über die Strecke zu diskutieren („Bitte wenden!“), reicht es dem 61-Jährigen. Er dreht dem Fahrrad-Navi einfach den Ton ab. Schließlich hat er die Route von Hildesheim bis zum Fagus-Werk in Alfeld selbst ausgearbeitet, da wird er sich doch nicht von einer quäkigen Lautsprecherstimme erzählen lassen, wo es langgeht.
Auf den ersten zehn Kilometern folgen wir ohnehin dem frisch ausgeschilderten Börderadweg. Mitradler Uwe Jenss ist Initiator dieser Fernroute zwischen Hameln und Berlin und nutzt die heutige Fahrt gleich, um zu kontrollieren, ob die neu aufgestellten Wegweiser auch gut zu erkennen sind. Außerdem möchte er Angela Merkels Wahlkampf-Schuhe sehen. Die eher plumpen Treter stehen im Fagus-Werk gleich neben den filigranen Model-Trittchen von Claudia Schiffer und den schnittigen Rennfahrer-Stiefeln von Ralf Schumacher und sind aus Jenss’ Sicht offenbar ein Highlight der 3000 Quadratmeter umfassenden Industrie-Ausstellung.
Doch bis dahin liegen noch 48 Kilometer vor uns. Vom Bahnhof aus sind wir losgeradelt, die Steuerwalder Straße entlang und dann links abgebogen nach Himmelstür und mitten rein in den „Güldenen Winkel“. Dazu gehören Himmelsthür, Sorsum, Emmerke und die beiden Escherdes. „Die Gegend war früher landschaftlich sehr reizvoll, deshalb haben sich die Gemeinden diesen Namen gegeben“, erläutert Körner. „Es gab sogar Pläne, eine Samtgemeinde zu bilden.“ Doch die zerschlugen sich und auch die Landschaft habe unter dem Ausbau von Bundesstraße und Bahntrasse seither deutlich gelitten, konstatiert Körner.
Die Frau im Navi ist verwirrt.
Für „güldene“ Getreidefelder sind wir ohnehin noch zu früh, stattdessen fahren wir vorbei an leuchtendem Klatschmohn in einem grünen Gerste-Meer, an blühenden Holunderbüschen und – vor allem in den Ortschaften – Rosensträuchern in zahlreichen Farbvarianten. Bis Emmerke ist die Strecke für Körner ein Heimspiel. Noch bis vor ein paar Monaten hat der in Ochtersum lebende Konstruktions-Ingenieur hier gearbeitet, seit kurzem ist er Rentner und hat nun noch mehr Zeit, seinem Hobby zu frönen: Radfahren. Kein Wunder, dass er mit seinen Ortskenntnissen sogar die Frau im Navi verwirrt.
In Emmerke fahren wir ein kleines Stück durchs Gewerbegebiet und lassen dann den Verkehrslärm endgültig hinter uns. Klein Escherde nähern wir uns vorbei an einer zum Wohnhaus ausgebauten Windmühle mit wild kläffenden Hunden im Garten. Ein schmaler Pfad führt zwischen zwei Getreidefeldern hindurch. „Hintereinander fahren!“, ruft Jenss noch. Nur gut, dass uns keiner entgegenkommt. In der Ferne ist von hier aus zum ersten Mal die Marienburg zu sehen – eine Aussicht, die uns nun über einige Kilometer begleiten wird. Auf halber Strecke zwischen Klein Escherde und Heyersum lädt eine Bank zu einer kurzen Rast ein. In nordöstlicher Richtung leuchtet strahlend weiß der Giesener Kaliberg, im Norden lässt sich das Messegelände in Laatzen erahnen. Die Marienburg liegt in Fahrtrichtung rechts vor uns – also im Westen. „Nur schade, dass die Zuckerfabrik im Vordergrund so massiv wirkt und die Marienburg kaum noch auffällt“, sagt Körner.
Doch der Blickwinkel ändert sich, je näher wir Nordstemmen kommen. Die Zuckerfabrik verschwindet in einer Senke, die Marienburg liegt erhaben in der Sonne. Für uns aber bleibt sie heute unerreichbar, denn am Kreisel in der Nordstemmer Hauptstraße verlassen wir den Börderadweg und fahren jetzt weiter nach Süden, der Sonne entgegen. Die meint es heute gut mit uns. Bei 20 Grad ist es warm genug, um Appetit auf Eis zu bekommen, aber nicht so heiß, dass die Fahrradtour zum Kraftakt würde. Und was noch besser ist: Der kräftige Wind aus nordöstlicher Richtung weht uns von nun an regelrecht vor sich her. „Ein kleines Stück Straße ließ sich nicht vermeiden“, bedauert Körner, „aber zum Glück gibt es hier ja einen Radweg.“ Auf dem gelangen wir in wenigen Minuten nach Burgstemmen.
Statt hier auf die Bundesstraße 1 zu fahren, wo der ausgeschilderte Leineradweg entlangführt, halten wir uns östlich des Flusses und überwinden einen langgezogenen Anstieg zum Großkamp Berkel, vielen bekannt vom jährlichen Weihnachtsbaumverkauf. Neben mir klackert Körners Gangschaltung ein paar Ritzel nach oben auf eine kleinere Übersetzung. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Geräusch höre: Oft hat der 61-Jährige bisher noch nicht zwischen seinen 21 Gängen hin- und herschalten müssen. Ein Indiz dafür, dass die Strecke leicht zu fahren ist.
Wir passieren rechter Hand eine Kiesgrube, in der wochentags ordentlich gearbeitet wird. Auf dem schmalen, nicht-asphaltierten Feldweg verkehren deshalb auch Lastwagen, doch wir haben Glück und begegnen keinem. Der Weg führt uns im großen Bogen an die Straße zwischen Burgstemmen und Betheln, die wir oberhalb von Betheln gleich wieder verlassen, um über einen Feldweg in den Ort zu gelangen. Nach einem kleinen Schlenker verlassen wir diesen erneut auf der Landstraße in südlicher Richtung und biegen kurz hinter dem Ortsausgang rechts ab. In großen schwungvollen Bögen führt der Weg durchs Landschaftsschutzgebiet nach Gronau. Doch statt Autos begegnen wir nur ein paar Ziegen, die für die bergab vorbeirauschenden Zweiradfahrer nur einen irritierten Blick übrig haben.
In der Gronauer Masch, am Fuße des kleinen Hügels, lohnt es sich dagegen, langsamer in die Pedale zu treten. Den unter niedrigen Ästen verborgenen Zugang zum hölzernen Aussichtsturm auf der linken Wegseite übersieht man sonst leicht. Hatte ich schon auf Höhe der Marienburg bedauert, das Teleobjektiv nicht in die Kameratasche gesteckt zu haben, würde ich es mir hier noch mehr wünschen. Mit bloßem Auge sehe ich einen Kranich durchs Schilf staksen, und ein paar Enten mit lautem Gekreisch und viel Gespritze auf dem Wasser landen. Mit Tele oder Fernglas könnte ich vielleicht auch die Frösche erkennen, deren durchdringendes Gequake schon lange vor dem Aussichtspunkt zu vernehmen war. Und wo Frösche sind, sind auch Störche nicht fern – wie der weitere Weg durch die Wiesen zeigt. Aus einem Storchennest sehen wir ein paar weiße Köpfe ragen, über dem Ortseingang von Gronau kreist ein ausgewachsener Vogel auf Futtersuche.
Vor den Sieben Bergen keine Zwerge
Futtersuche wäre jetzt auch mein Stichwort, aber Tour-Chef Körner ist gnadenlos. „Hier geht es rechts zum Eiscafé, wir fahren links“, lautet seine Ansage an der ersten großen Kreuzung in Gronau. Von hier aus können wir uns an der Beschilderung des Leineradwegs orientieren. Die weist uns den Weg nach Rheden, der wie mit dem Geodreieck gezeichnet in vielen rechten Winkeln um große Flurstücke herum verläuft. Vor uns ist nun linker Hand der erste der Sieben Berge zu sehen, an denen wir südwestlich entlang radeln werden. Auf der falschen Seite leider, um die sieben Zwerge aufzutun, wie mir eine Kollegin schon vor der Tour erklärte. Denn die müssten ihrer Logik zufolge auf der nordöstlichen Seite des kleinen Höhenzugs leben – von Göttingen aus gesehen, wo einer der Gebrüder Grimm eine Zeit lang als Professor arbeitete, eben „hinter den Sieben Bergen. „
Wir durchqueren Rheden und kommen als nächstes nach Brüggen, wo sich für Architekturinteressierte ein Abstecher zum Schloss anbietet, für Hungrige ein Halt am Leine-Café. Weil das aber nur donnerstags bis sonntags geöffnet hat, unsere Tour aber an einem Dienstag stattfindet, gehe ich auch hier leer aus. Statt bei Kaffee und Kuchen neue Kraft zu tanken oder endlich das verdiente Eis zu löffeln, muss ich mich an der Landschaft satt sehen. Die ist dafür auf diesem letzten Teilstück gleich doppelt schön.
Von Brüggen geht es durch die Leine-Aue weiter an Wettensen vorbei. Ein kleines Stück hinter dem Ort heißt es „Fahrräder umtragen“. Über eine Fußgängerbrücke wechseln wir das Leine-Ufer. An den Treppenaufgängen gibt es Schieberillen für die Fahrräder, trotzdem ist ein bisschen Muskelkraft in den Armen hilfreich, vor allem, wenn die Satteltaschen vollgepackt sind. Das letzte Stück bis Alfeld fahren wir entlang der Gleise, auf denen wir später bequem per Bahn zurück nach Hildesheim reisen werden. Doch vorher warten noch Merkels Schuhe auf unseren Besuch. Und sagte ich schon, dass ich jetzt dringend ein Eis brauche?
Mein Fazit
Eine leichte Tour, fast durchgängig asphaltiert, mit wenig Steigungen. Allein die Länge von rund 48 Kilometern macht die Route etwas anspruchsvoller. Sie ist deshalb eher ambitionierteren Hobbyradlern zu empfehlen. Wer es weniger sportlich mag, kann auch eine Teilstrecke mit dem Zug fahren (Bahnhöfe gibt es in Nordstemmen, Elze und Banteln). Während auf den ersten Kilometern der Autoverkehr noch etwas stört, ist die zweite Hälfte der Strecke zwischen der Leine und dem Höhenzug Sieben Berge landschaftlich sehr ansprechend. (rei)
Unterwegs einkehren
Ein Getränk oder ein Eis bekommt man entlang der Route in jedem größeren Ort. Einkehrmöglichkeiten gibt es unter anderem im Leine-Café an der Marktstraße in Brüggen (Telefon 0 51 82 / 90 32 87), geöffnet mittwochs bis sonntags von 14 bis 18 Uhr und am Zielort im Fagus-Gropius-Café, einem ehemaligen Maschinenhaus. Werktags ist von 8.15 bis 14 Uhr geöffnet und wird auch ein täglich wechselnder Mittagstisch angeboten. Samstags und sonntags gibt es Kaffee und eine Auswahl an Kuchen. Ab fünf Personen muss jedoch vorher reserviert werden. (rei)
Eine ausführliche Karte von der Tour zum Ausdrucken finden Sie unter www.hi-radtouren.de unter dem Punkt „Radtouren zum Nachfahren/HAZ-Radtouren“.