Tour 06: Rattenfängerstadt Hameln
Auf nach Hameln – um Bilder zu sammeln
Von Rainer Breda
Könnte die Maus „Frederick“ radfahren – die Strecke von Hildesheim nach Hameln wäre eine ihrer Lieblingstouren. Nun tun sich Mäuse von Natur aus schwer damit, aufs Rad zu steigen. Erst recht, wenn es sich wie in diesem Fall nur um eine Bilderbuchfigur handelt. Doch Fredericks Leidenschaft, im Sommer schöne Bilder für die Seele zu sammeln, die an kalten, dunklen Tagen das Herz wärmen, ist auch für Menschen ein gutes Rezept. Die nötigen Bilder gibt’s auf den 60 Kilometern zwischen Hildesheim und Hameln reichlich.
Schon der Treffpunkt, den ADFC-Tourleiter Uwe Jenss festgelegt hat, ist ein ausgesprochen schöner Ort: Los geht’s an der Bischofsmühle. Das sanfte Rauschen und Glitzern des Wassers begleitet uns bis nach Himmelsthür. Dort geht es quer durch den Stadtteil, die kleinen rotweißen Schilder des ADFC weisen die Richtung. Am Ortsausgang dröhnt der Lärm der B1 herüber – zum Glück für lange Zeit erst einmal die letzte Begegnung mit der Bundesstraße.
Wir radeln am Bahndamm entlang auf einem asphaltierten Feldweg nach Emmerke, durchqueren Klein Escherde – und haben plötzlich schon zehn Kilometer hinter uns, wie Jenss mit Blick auf den Tacho meldet. „Von der Bank hier haben Sie einen weiten Blick“, verspricht der Mann vom ADFC. Tatsächlich: Im Nordosten ist das Kraftwerk Mehrum zu sehen, im Norden sogar die Silhouette von Hannover. Und auch die Marienburg ist schon ein gutes Stück näher gekommen.
Doch die ist schon von HAZ-Kollegin Valea Böhm angesteuert worden, also lassen wir das Schloss in Nordstemmen rechts liegen und lenken nach Süden, das nächste Etappenziel Burgstemmen im Visier. Dort stehen als Empfangskomitee Dutzende von Sonnenblumen an der Straße. Sie wirken wie ein Vorgarten für die Mühle am Ortsrand – wenn „Frederick“ das nur sehen könnte.
Auffahrunfall auf dem Feldweg
Nun folgt der unattraktivste Abschnitt der gesamten Tour: Wir nehmen den Radweg direkt an der B 1 nach Elze – auch sehr zum Leidwesen von Uwe Jenss. Doch der ADFC-Mann hat Hoffnung, dass es bald eine Alternative gibt: „Direkt an der Leine, neben der Bahn, verläuft ein Feldweg – allerdings ist der noch auf etwa 200 Metern unterbrochen.“ Vielleicht lasse sich dort im Zuge der neuen Planung für den Leine-Radweg etwas machen. Gute Idee, findet Susanne Endres von der „Hi-Reg“, die uns begleitet. Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft gibt die ADFC-Radkarte heraus. „Ich will sehen, wie das, was dort aufgezeichnet ist, in der Natur aussieht“, sagt Endres.
In Elze angekommen, ist eigentlich Zeit für die erste Rast. Doch einladende Cafés mit Terrasse gibt es in der Hauptstraße nicht (Verzeihung, liebe Elzer, es ist leider so). Dafür aber ein Stück Kultur, auf das Jenss hinweist. Vor der Peter-und-Paul-Kirche, gleich neben dem Rathaus, steht ein Denkmal, das an den Deutsch-Französischen Krieg erinnert. „Sehen Sie mal, hier sind die Namen der gewonnenen Schlachten aufgeführt – und jetzt wissen Sie auch, warum die Orleansstraße in Hildesheim ihren Namen trägt.“ Als Protestant wirft man selbstverständlich einen kurzen wohlwollenden Blick auf Luther, der um die Ecke vor der alten Grundschule steht. Und dann schnell weg, raus in die Landschaft. Direkt gegenüber dem äußerst schönen Elzer Freibad, das an anderen Tagen einen Besuch wert wäre, biegen wir nach rechts in die Feldmark ab.
Und auf einmal merkt der Radler, wie verwöhnt er in der Hildesheimer Börde ist. Während dort viele Wege aus festem Material sind, trägt der „Feldweg“ nach Sehlde seinen Namen zurecht. Pfützen säumen den Weg, Susanne Endres tritt unvermittelt vor einer auf die Bremse – der HAZ-Redakteur fährt auf. Ungeschickt von beiden Beteiligten, wie Jenss im besten Sinne väterlich klar macht. „Wer auffährt, hat Schuld, auch auf dem Rad – aber bei Pfützen sollte man einfach die Füße heben und durch.“
Nach einer kurzen Rast an der Sehlder Quelle, bei der Endres mir ein Brot anbietet, ist der kleine Zwischenfall vergessen. Über eine nahe Weide laufen zwei Rehe, Mäuse flitzen vor uns über die Steinpiste. Im „Schäfertritt“ in Esbeck hält Jenss plötzlich an einem Schild. „Da hat jemand unsere Hinweise verdreht.“ Tatsächlich: Die ADFC-Radwegtafel weist in dieselbe Richtung wie das Schild für Autofahrer – doch während die auf der B1 nach Hameln kommen, wollen wir das ja gerade nicht. Denn dann entginge uns das herrliche Gefühl, bei fast vollkommener Stille von Esbeck nach Heinsen zu radeln, links und rechts von mächtigen Windrädern beschirmt.
In Heinsen lotst uns Jenss zu einem Gut, dessen Grundmauern seit 1740 stehen und das seit drei Generationen der Familie Barckhausen gehört. Wer einen Blick aus der Nähe auf das im Barockstil gehaltene Gebäude werfen möchte, sollte es riskieren: Der Gutsbesitzer sei keiner, der Neugierige mit der Schrotflinte begrüße, versichert ein Nachbar: „Ach Quatsch, das ist ein netter Kerl.“
Vorbei an der Gutsmauer nehmen wir Kurs auf Ahrenfeld, unterhalb des Thüster Berges. Und auf einmal sind wir im Landkreis Hameln-Pyrmont, wie ein Schild am Wegesrand zeigt. Noch immer ist am Horizont die Marienburg zu sehen, gleich gegenüber liegen der Osterwald und der gleichnamige Ort, irgendwo davor zieht sich fast schnurgerade die B1 durch die Felder. Gott sei Dank liegt sie weit weg, denkt man, und merkt vor lauter Freude gar nicht, dass es irgendwie bergauf geht: In Salzhemmendorf fällt der Blick ins Tal, statt Treten ist Rollen angesagt, der Schwung reicht fast bis zur Ith-Sole-Therme am Ortsausgang. Dort gibt es auch ein Restaurant, das Gelegenheit für eine Pause bietet. Wer allerdings keinen Schwefelgeruch mag, sollte vielleicht davon absehen. Ein voller Bauch wäre an dieser Stelle ohnehin schlecht. Denn nun fordert der Ith seinen Tribut, gegenüber der Therme geht es ein kurzes Stück steil hinauf. Auch der folgende Feldweg zum Hof Spiegelberg ist nicht jedermanns Sache, lässt sich aber durchaus benutzen. „Wir sparen so anderthalb Kilometer und umfahren Lauenstein“, erklärt Jenss.
Vor dem Hof Spiegelberg knipst die Seele das nächste Foto: Es zeigt eine sieben Jahrhunderte alte romanische Friedhofskapelle, deren Hauptportal von einer prächtigen Rosenhecke umrahmt wird. Kurz danach kommt schon ein weiteres Motiv ins Blickfeld. An der linken Seite öffnet sich die von alten Kastanien gesäumte Einfahrt zum Hof Spiegelberg, Schnell reingeschaut und gestaunt, dann treten wir wieder in die Pedale, um nach Marienau zu kommen. Hier lohnt sich ein längerer Halt an der Marienkapelle. Wo es den Schlüssel für Besichtigungen gibt, verrät ein Schild. Doch auch der Vorplatz hat etwas zu bieten: In mehreren Beeten wachsen teils exotische Kräuter. „Eine schöne Anlage“, meint Jenss, und er hat Recht.
Wie mit der Auswahl des nächsten Rastplatzes, dem Park der Klinik Lindenbrunn am Eingang von Coppenbrügge. Das Gelände ist schön gestaltet, wir lassen uns auf einer Bank nieder. Der ADFC-Mann knabbert Möhren, der Redakteur Müsliriegel. Noch 16 Kilometer, dann sind wir in Hameln. Schon, leider.
Denn nun beginnt der schönste Abschnitt. Direkt nach Coppenbrügge, hinter dem Gasthaus „Felsenkeller“, ist erst einmal eine kräftige Steigung zu überwinden. Die Aussicht und Atmosphäre danach entschädigen jedoch allemal für die Mühe. Es ist so friedlich, als wäre man der einzige Mensch auf der Welt, das Herz öffnet sich wie die Landschaft. Jenss schlägt einen Abstecher nach Bessingen zur Schwefelquelle vor, von dort steuern wir Behrensen an. Eine Fundgrube für Bildersammler wie „Frederick“ und mich: Auf einer Weide direkt an der Hauptstraße muht eine Kuh, ein paar Meter weiter gackert ein Huhn. Besonders sehenswert ist das idyllische, fünf Jahrhunderte alte Rittergut Behrensen der Familie Janssen, die auch Gästezimmer vermietet!
Zwischen dem Höhenzug „Schecken“ und dem Eichberg bewegen wir uns auf Hameln zu. Volle Holunderbeerbüsche stehen Spalier. An vielen Stellen ragen Pflanzen in den Weg, hier und da ist es matschig. Was eher unangenehm klingt, fühlt sich ganz anders an: Gerade diese Strecke zeigt, wie schön das Radfahren in der Natur sein kann. Da stört nicht einmal die „Eurobahn“, deren blaue Bemalung sich hin und wieder rechts hinter der saftig grünen Wiese ins Blickfeld schiebt. Die Bahnstrecke verläuft parallel zur Route. In Rohrsen erreichen wir das Gebiet der Stadt Hameln, überqueren den Fluss „Hamel“. An der B 217 entlang fahren wir in die Innenstadt und erreichen sie – etwa sieben Stunden nach unserem Aufbruch an der Bischofsmühle – direkt am Rattenfängerbrunnen zwischen Rathaus und Theater.
Hameln ist ohne Frage hübsch, es gibt viel Fachwerk und auch sonst einiges zu sehen, darunter das Hochzeitshaus, das Bonifatius-Münster, die Nicolai-Kirche am Markt. Doch für mich war eigentlich der Weg das Ziel. Nach einem Kaffee, einem Stück Kuchen und einem Kurzbesuch an der Weser neben der Pfortmühle steigen wir in den Zug zurück nach Hildesheim, die Bahn verkehrt stündlich. Die Maus „Frederick“ würde wahrscheinlich über dieses schnelle Verkehrsmittel die Nase rümpfen. Doch der Film mit Bildern für die Seele ist für diesen Tag voll. Eines steht fest: Diese Tour mache ich sicher noch einmal.
Mein Fazit:
Na klar, diese Zahl kann abschrecken: 60 Kilometer mit dem Rad – das nimmt vielleicht manchem den Mut. Doch die Strecke ist sehr angenehm, sie hat kaum Steigungen und bietet derart viel fürs Auge, dass es sich lohnt, den Rücken mal ein bisschen krumm zu machen.
Außerdem: Wem der Weg wirklich zu lang wird, kann bereits unterwegs von seinem Fahrrad ab- und in die Eurobahn einsteigen. Sie hält in Coppenbrügge, Voldagsen, Osterwald und Elze, alle Bahnhöfe liegen nahe der Route.
Unterwegs einkehren
Wer zwischendurch Lust auf ein Eis hat, sollte am „Dante“ in der Elzer Hauptstraße halten. „Das Eis ist wirklich lecker“, lobt ADFC-Vertreter Uwe Jenss. Einen Mittagstisch, auch Kaffee und Kuchen, bietet das Restaurant der Ith-Sole-Therme in Salzhemmendorf. Einladend wirkt der Biergarten des „Felsenkeller“ am Ortsausgang von Coppenbrügge. (br).