Tour 10: Zum Eisessen nach Gronau
Aus der Schmetterlingsperspektive
Von Sara Reinke
Der Drahtesel bockt schon gleich am Anfang. Raus aus dem schattigen Unterstand, rauf aufs Auto und quer durch den Landkreis nach Hildesheim, das musste doch wohl nicht sein. Er wehrt sich nach Kräften. Die Bremse schleift, die Gangschaltung hakt, beim Schalten springt die Kette ab. Ich versuche eine Not-Operation ohne Werkzeug. Minimal-invasiv sozusagen. Das Ergebnis ist dann auch eher minimalistisch. Die Kette läuft, aber zähneknirschend.
ADFC-Mann Uwe Jenss, der die heutige Route zur Eisdiele nach Gronau geplant hat, kann mir nicht weiterhelfen. „Mit Nabenschaltungen kenne ich mich nicht aus“, sagt er achselzuckend. Und radelt in gewohnt zügigem Tempo voraus. Vom Jo-Bad durch die Steinbergstraße Richtung Rennstieg. Der historische Kurierpfad zieht sich vom Hildesheimer Domhof bis Winzenburg bei Freden, erklärt Jenss. Bis in den Hildesheimer Wald hinein werden wir seinem Verlauf folgen. Sagt’s und schwingt sich nach einem kurzen Stopp wieder auf sein Rad.
Der 70-Jährige ist ein Phänomen. Er scheint weder Hitze zu spüren, noch Steigungen wahrzunehmen. Bei knapp 30 Grad im Schatten trägt er lange Hosen, Hemd und Hut und tritt flott in die Pedale, während er kulturgeschichtliche Erläuterungen zur Strecke abgibt. „Diese Bahnstrecke war einst eine wichtige Verkehrsverbindung für die Bosch-Werke“ erklärt er, als wir kurz vor Diekholzen die längst stillgelegte und völlige zugewucherte Trasse überqueren. Auf der könnte mal ein Wander- und Radweg entstehen, hofft Jenss. Insbesondere von letzteren kann es aus seiner Sicht nie genug geben.
Zwei Hexen und ein Silbermantel
Kurz hinter dem Ort geht der Rennstieg links ab. Wir wollen eigentlich weiter geradeaus, nutzen aber die Chance für eine kurze Pause im Schatten. Auf der Bank an der Weggabelung sitzen zwei alte Frauen. „Da geht’s ins Unendliche“, sagt eine von ihnen, als ich aus dem gleißenden Sonnenlicht in den düsteren Waldweg blinzele. Es klingt wie ein Satz aus einem Märchen. Ich stelle mir vor, wie der finstere Wald hinter der nächsten Kurve einsame Wanderer verschluckt. Ihnen die Orientierung raubt, sie herumirren lässt bis in die Unendlichkeit eben.
Ist das die Hitze? Fange ich schon an, zu phantasieren? Oder haben die alten Damen mich verhext? Schnell zurück auf die Asphaltstraße. Jenss holt mich wieder in die Wirklichkeit. Er zeigt mir die Gebäude einer ehemaligen Munitionsfabrik aus dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen wird das Gelände gewerblich genutzt, ein paar Wohnhäuser gibt es auch. Wir fahren unter der Schnellbahntrasse hindurch. Die Brennnesseln rechts und links des Weges sind ein Paradies für Schmetterlinge. Ein mit Kamera, Stativ und einem halbmeterlangen Objektiv ausgestatteter Naturfreund ist hier mitten in der brütenden Sonne auf der Suche nach seltenen Arten. „Tagpfauenauge, Admiral, Kleiner Fuchs“, zählt er auf, was ihm schon vors Objektiv geschwirrt ist, „und vorhin war hier noch – oh, Entschuldigung, das ist jetzt wichtig.“ Kamera geschultert und weg ist der Mann. Ein seltener Silbermantel, der gerade unter der Bahnunterführung entlang geflattert kommt, erfordert seine volle Aufmerksamkeit.
Wir sind froh, ein Stück weiter rollen zu können, dort ist es wenigstens schattig. Allerdings geht es von nun an kontinuierlich bergauf. Die langgezogene Steigung bis Mathildenhall ist der schwierigste Abschnitt der Route. Bei hochsommerlichen Temperaturen nicht wirklich ein Vergnügen, findet offenbar auch der Drahtesel, der seinen Unmut kundtut, indem er beim Schalten die Kette neben dem Ritzel verkeilt.
Mit ölverschmierten Fingern repariere ich leise fluchend den Schaden und denke an die Fahrer der Tour de France. Fast zeitgleich und bei ähnlichen Temperaturen überwinden sie an diesem Tag eine schwierige Etappe in den Pyrenäen. Was ist dagegen schon der Hildesheimer Wald?
An einer zugewucherten Lichtung legt Jenss eine Gedenkminute ein für die Arbeiter des ehemaligen Kaliwerks Mathildenhall. Von dem seit Jahrzehnten geschlossenen Werk ist nichts mehr zu sehen. Nur das Torhäuschen gibt es noch. Es wurde hier ab- und in dem kleinen Örtchen Barfelde wieder aufgebaut. Dorthin führt unser Weg – von nun an nur noch bergab. Der Fahrtwind verschafft angenehme Kühlung und obwohl ich – Tribut an die von Schlaglöchern übersäte Schotterpiste – immer zwei Finger an der Bremse lasse, zeigt der Fahrradtacho 35 Stundenkilometer. Wieder denke ich an die Tour-de-France-Teilnehmer. Die schießen teilweise rund dreimal so schnell bergab. Ist doch ganz gut, dass das hier nur der Hildesheimer Wald ist.
An dessen Rand unterbrechen wir unsere rasante Abfahrt. Hier gibt es einen Picknick-Tisch, eine phantastische Aussicht und viele Wespen. Die freuen sich, als Jenss und Mitradlerin Heidi Merten ihre mitgebrachten Bananen auspacken. „Die haben’s gut: können essen, was sie wollen und behalten immer ihre Wespentaille“, scherzt Jenss – der doch selbst weit davon entfernt ist, Figurprobleme zu haben. Mein Blick schweift in die Ferne über Külf, Thüster Berg und Osterwald. Davor liegt das breite Leinetal, durch das unser Rückweg führt. Wir durchqueren Barfelde und erreichen Gronau auf einem Radweg, der auf dem ehemaligen Bahndamm der Despetalbahn angelegt wurde und auf der linken Seite parallel zur Landstraße verläuft.
In Gronau ist die Luft raus. Nicht nur bei uns, auch der Drahtesel macht langsam schlapp. Beim Fahrradladen Leine-Bike gibt’s Frischluft für die Reifen, im Eiscafé Da Ros Erfrischungen für uns. Im Schatten der Kirche zeigt das Thermometer 28 Grad, der Fahrradtacho verrät, dass wir bisher 22 Kilometer zurückgelegt haben – nicht ganz die Hälfte der Gesamtstrecke.
Ab Gronau fahren wir einen Abschnitt der Route nach Alfeld (Tour 1) in umgekehrter Richtung. Pflichtstopp für alle Naturfreunde ist dabei der Aussichtsturm in der Gronauer Masch. Je länger wir gucken, desto mehr Graureiher entdecken wir an den Teichen, insgesamt sechs Stück. Außerdem einen ganzen Schwarm Wildgänse, sehr viele Schmetterlinge und weiter hinten einen Rotmilan, der über den Feldern seine Kreise zieht. Als wir zurück zu den Fahrrädern gehen, springt ein Reh über ein abgeerntetes Getreidefeld vor uns davon.
Nicht mal fliegen ist schöner
Als weniger scheu erweist sich ein kleiner Schmetterling, der sich auf meinem Lenker niedergelassen hat und einige Kilometer mitreist. Ein Bläuling, wie Günter Drein, der vierte Mann in unserer Radelgruppe und Gründer der Hildesheimer Nabu-Ortsgruppe, sofort erkennt. Bis weit hinter Betheln lässt sich der winzige Falter den Fahrtwind um die Fühler rauschen, flattert bei kurzen Stopps lediglich kurz auf, um sich gleich wieder neben meiner Klingel niederzulassen. Er scheint bei seiner Reise per Anhalter so wild entschlossen, dass ich fast ein bisschen enttäuscht bin, als er mich an der Kieskuhle kurz vor Burgstemmen doch verlässt. Die nicht mehr genutzte und inzwischen wieder völlig verwilderte Abbaugrube auf der rechten Wegseite ist für so einen Schmetterling allerdings wohl in der Tat ein attraktives Plätzchen.
Für uns geht es weiter über Burgstemmen nach Nordstemmen und dann parallel zur Bundesstraße 1 durch die Felder nach Heyersum, Escherde, Emmerke und Himmelsthür wieder nach Hildesheim und zurück zum Ausgangspunkt an der Jo-Wiese. Ein schöner Aussichtspunkt mit Sitzgelegenheit lädt auf der Anhöhe zwischen Heyersum und Escherde noch einmal zu einer kleinen Rast ein. „Noch zehn Kilometer, dann ist es geschafft“, sagt Jenss, der nach dem Genuss von ein paar Mohrrüben wieder voller Elan voranstrampelt. Die restliche Strecke ist angenehm zu fahren, für den leichten Gegenwind sind wir angesichts der glühenden Sommerhitze sogar ganz dankbar.
Zurück am Jo-Bad zeigt der Tacho 49 Kilometer an. Noch einmal wandern meine Gedanken zur Tour de France. Da wäre das nicht mal ein Drittel einer Tagesetappe. Nichts für mich. Ich lade den störrischen Drahtesel aufs Auto und gehe schwimmen.
Zur Strecke
Gesamtstrecke = 47 km
Start: Brücke Johanneswiese an der Innerste in Hildesheim
Ziele: Mathildenhall, Torhaus Mathildenhall, Eisdiele Gronau, Bahnhof Nordstemmen
Mein Fazit
Viel Natur und unterschiedliche Landschaftsformen lassen sich bei dieser Tour entdecken. Im Hochsommer sollte man die Route aber so planen, dass man den Hildesheimer Wald möglichst bereits in den Morgenstunden durchquert.
Wegen des langen Anstiegs nach Mathildenhall ist die rund 50 Kilometer lange Strecke nur für geübte Radler zu empfehlen. Bei heißem Wetter ist zu beachten, dass speziell die zweite Hälfte der Tour wenig Schatten bietet.
Ausreichend Trinkwasser mitzunehmen, ist daher Pflicht.
Unterwegs einkehren
Wer mit einer Stärkung nicht bis zur Eisdiele in Gronau warten möchte, sollte sich etwas Verpflegung in die Satteltasche packen. Möglichkeiten, eine Picknickdecke auszubreiten, gibt es unterwegs reichlich. Besonders lohnenswert ist die Aussicht über das Leinetal am Rand des Hildesheimer Walds. Dort steht auch eine hölzerne Sitzgruppe. Wer nach dem Eis nach etwas Deftigem lechzt, findet auf dem Rückweg in Nordstemmen eine Würstchenbude. Unterwegs Lebensmittel einkaufen kann man auch beispielsweise in Diekholzen oder Emmerke.
Eine ausführliche Karte von der Tour zum Ausdrucken finden Sie unter www.hi-radtouren.de unter dem Punkt „Radtouren zum Nachfahren/HAZ-Radtouren“.