Tour 09: Durch die Börde nach Osten
Brockenblicke, Wasserski und Nachtigall
Von Peter Hartmann
Von Hildesheim erreicht man den Salzgittersee bequem in 30 Minuten – mit dem Auto. Wir wollen mit dem Fahrrad los. Warum? Weil die Börde so schön ist. Die Börde schön? Dieses flache Stück Norddeutschland mit Maulwurfshügeln als höchste Erhebung und mit Menschen, die den Braunkohl als norddeutsche Palme verspotten? Von wegen. Die Börde ist eben nicht flach, sie ist abwechslungsreich, und man kann sogar den Brocken sehen. Radeln wir also los!
Am Kennedydamm treffe ich Uwe Jenss, einen durchtrainierten Radfahrer. Die Frage: „Wie kommen wir jetzt so schnell wie möglich aus der Stadt raus?“, macht ihn sympathisch. Also, es geht so: 100 Meter Richtung Osten durch die Einumer Straße bis zur Bahn, und da verließen sie ihn. Vielmehr, die Straße. Ab jetzt nur noch Feld- und Fußwege. Durch Kleingärten um den Kreisel herum, an der Bahn entlang. Es geht weiter durchs Industriegebiet nach Bavenstedt. Vorbei an der evangelischen Kleinkirche mitten im katholischen Stift, weiter auf dem Radweg nach Hönnersum. Der kleine Ort mit der hübschen gelben Kirche bleibt zurück. Verführerisch lockt die Kreisstraße nach Machtsum, aber Uwe Jenss fährt hundert Meter weiter. Da gibt es einen Feldweg nach Machtsum, eigentlich die alte Trasse der Peiner Blitz- und Bogenbahn. „Ich fahre lieber Feldwege“, sagt er, „auch wenn die etwas ruckelig sind. Man sieht einfach mehr.“ Zum Beispiel das Reh, das direkt am Weg aufspringt und in Richtung Borsum im Weizenschlag verschwindet.
Wir radeln durch Machtsum an der Kirche vorbei, ein kurzes Stück Straße? Nein, Jenss holt seine Kreiskarte heraus. Da gibt es einen Feldweg. Tatsächlich, vorbei am Machtsumer Osterfeuerplatz geht es Richtung Südosten auf Kemme zu. Wieder ein kleines Stück an der Bahn entlang und weiter nach Ahstedt. Hier lebte einst der Heimatdichter Wilhelm Kaune.
Wir biegen gleich ab in Richtung Schellerter Sportplatz und treffen glücklicherweise zwei rastende Rentner (bis eben noch radelnde Rentner). Rasten auch kurz, hören ein leises Plätschern. Am Wegesrand fließen zwei Bäche zusammen. Sieht fast aus wie das Deutsche Eck zu Koblenz, nur kleiner. Und dass beide Bäche Klunkau heißen. Tatsächlich trifft sich hier die Dingelber Klunkau (die ich als kleiner Junge nur allzu gern aufgestaut habe) mit der Dinklarer. Und wie Werra und Fulda lassen beide beim Kuss ihren Namen, werden zum Bruchgraben. Nur nicht bis zur Nordsee, sondern bis zur Innerste bei Sarstedt. Ein hübscher Radweg führt vorbei an Pferdekoppeln. Cocky und Lord weiden da. Ihr Besitzer ist zufällig da, samt Hund auf dem Pickup. Landwirtschaft pur. Nach kurzem Plausch geht es weiter Richtung Garmissen.
Ein Ort wie von der Modelleisenbahn
Da gibt es ein schönes Freibad, ein Geheimtipp, nicht weit davon eine Bank, die zum Rasten einlädt. Zwitschernd wie die Vögel dringen Kinderstimmen durch die Büsche. Direkt hinter dem Zaun liegt der Sankt-Lukas-Kindergarten von Garmissen. Ein Idyll aus dem Bilderbuch, wie der ganze Ort. Auch die Kirche könnte man sich sofort in einer Modelleisenbahn vorstellen. Quer durchs Feld ab nach Feldbergen. Kleiner runder Ort an der Bundesstraße. Nette Leute wohnen hier, die auch Fremden „Guten Tag“ sagen. Wir überqueren die Bundesstraße 1, die alte Reichsstraße von Aachen nach Königsberg, voller Erinnerungen auch an die nahe Funkstation auf dem Messeberg. Warum die hier lag? Weil zwischen dem Messeberg und Berlin nichts mehr an Bergen kommt.
Hinter der Bahn biegen wir ab, fahren durchs Feld Richtung Osten, überqueren die B 444, weiter nach Klein Himstedt. Nicht allzu weit die alte Giftmülldeponie. Nur ein paar Meter unterm Grün liegen Tonnen mit Seveso-Gift, aber auch Reste des Lackes, mit dem wir alle vor ein paar Jahrzehnten unsere Fenster gestrichen haben. Groß Himstedt ist noch etwas größer als Klein Himstedt. In einem Garten nahe der Kirche ein Idyll wie aus dem Märchen: Eine junge Frau sitzt unterm Apfelbaum und schreibt etwas auf ihrem Laptop. Carl Larsson für Norddeutsche. Danach wird es steil. Wir fahren durchs Feld auf einen Wald zu. Wald? Mitten in der Rübensteppe? Das Bereler Ries bietet sogar Forstwirtschaft und, an diesem sonnigen Tag, vor allem Schatten. Wir biegen ab, verlassen den Wald und bleiben überrascht stehen. Fernsicht vom Feinsten! Börde eben! Nach Norden blickt man über Söhlde hinweg Richtung Ilseder Hütte und Peine, nach Süden sieht man ein welliges Hügelland, über dem majestätisch der Brocken thront. Nach Osten liegt uns Salzgitter zu Füßen, mit dem mächtigen Stahlwerk. Alle 15 Minuten löschen sie dort den frischen glühenden Stahl mit Wasser – eine Dampfwolke steigt auf.
Vor uns die Kreidebrüche von Söhlde. Betreten verboten, reingucken erlaubt. Tief unten ein kleiner See in einem unglaublichen türkisfarbenen Blau. Darin haben wir seinerzeit gebadet (liebe Kinder: nicht nachmachen!) und die grellweiße Umgebung genossen. Ein Stück Kreide nehmen wir mit, als Souvenir. Die Vereinigten Kreidewerke bauen den wertvollen Stoff nur an zwei Stellen in Deutschland ab, hier und auf Rügen. Übrigens wird die Kreide überwiegend nicht als Schulkreide verwendet, sondern vielmehr in Kosmetika und Zahnpasta.
Schöne, aber leider nur kurze Schussfahrt heraus aus dem Landkreis Hildesheim, hinein in die Stadt Salzgitter. Stadt? Ein bisschen viel Grün für eine Stadt, aber na ja. Lesse ist ja auch nicht Lebenstedt. Schnurgerade weiter geht es Richtung Osten. Den See hört man eher, als man ihn sieht. Oder vielmehr die Nachtigallen, die an seinen Gestaden brüten. Und sie singen, ihrem Namen zum Trotz, am hellen Tage. Noch ein paar Meter, dann gibt es eine Einkehrmöglichkeit. Direkt auf dem See, denn dort ist die hölzerne Insel verankert, die eher ein Wasserskiclub ist. An den Tisch kommt Alexander Große-Stalmann, der Betreiber der ganzen Anlage. Kann hier jeder einfach mal so ein bisschen Wasserski fahren? Im Prinzip ja, aber er empfiehlt schon einen Kursus. Der dauert zwei Stunden, kostet 22 Euro für Erwachsene und 16 Euro für Kinder, „und dann können Sie vernünftig Wasserski fahren“. Und über den See brettern, was wörtlich zu nehmen ist, denn die Bretter werden gestellt. Neoprenanzüge auch, denn der Salzgittersee ist ja nicht die Adria. Große-Stalmann wirbt natürlich für seinen Sport. Der so wenig Unfälle habe, „dass wir nicht mal in der Statistik auftauchen“. Das liege nicht daran, dass es zu wenig Sportler gäbe. Gerade ist eine Jugendgruppe da, die nicht genug kriegen kann davon, sich mit Tempo 29 übers Wasser ziehen zu lassen.
Wind entscheidet über Rückweg
Nach verdienter Pause geht es entweder einmal rund um den See (sechs Kilometer) oder gleich zurück. Uwe Jenss: „Man kann den ausgeschilderten Börde-Radweg zurück nach Hildesheim nehmen, das sind 30 Kilometer, oder man fährt mit der Bahn.“ Dann muss man noch etwa sieben Kilometer weiter radeln nach Woltwiesche, in den Zug springen und ab nach Hildesheim. Die Bahnfahrkarte für das Fahrrad kostet 4,50 Euro, gilt dafür aber einen ganzen Tag. Kostenlos bekommt man den ultimativen Fahrradausflug-Tipp von Jenss mit. Der guckt morgens auf die Wetterkarte, woher der Wind weht. Und entscheidet dann, ob er hin oder zurück mit der Bahn fährt. „Das ist für uns Hildesheimer ideal, weil wir an einem Bahn-Kreuzungspunkt liegen.“
Während der Zug zurück durch die Börde nach Hildesheim rattert (oder vielmehr gleitet), fällt mir ein britischer Offizier ein, der mir vor vielen Jahren bei einem Manöver die Börde gezeigt und gefragt hat: Sehen Sie vor uns etwas? Auch nach zwei Blicken konnte ich nichts anderes sehen als leicht gewellte Rübenfelder. Erst ein kurzer Aufstieg mit dem Hubschrauber zeigte: Ein paar hundert Meter weiter versteckte sich ein ganzes Panzerbataillon. Und so bietet die scheinbar ebene Börde auch heute noch Überraschungen. Zwar keine Besatzer-Panzer mehr, aber Pferde, Bäche, Kreidebrüche und einen richtigen See.
Die Züge von Woltwiesche nach Hildesheim fahren täglich zwischen 8.48 Uhr und 19.48 jede Stunde. Der Fahrpreis beträgt 6,70 Euro mit Fahrrad. Die Karten müssen am Automaten auf dem Bahnsteig gelöst werden. Das Fahrradabteil erkennt man am aufgemalten Symbol. Die Fahrt dauert 14 Minuten. In Hildesheim gibt es einen Fahrstuhl.
Zur Strecke
Tourlänge: 35.6 km bis Salzgittersee und 6,6 km bis Bahnhof Woltwiesche
Gesamtstrecke = 65 km
Start: ADFC-Info-Laden, Am Ratsbauhof 1c
Ziele: Windmühle Machtsum, Kreidebrüche Söhlde, Salzgittersee, Wassermühle Nettlingen
Mein Fazit
Eine nur auf den ersten Blick etwas langweilige Strecke. Zwar wenig Einkehrmöglichkeiten, aber doch jede Menge Landschaft. Vor allem: Außer am Bereler Ries keine nennenswerte Steigung. Für Kinder geeignet, da fast ausschließlich auf Feld- und Radwegen gefahren wird. Nur Vorsicht bei den Kreidebrüchen. Empfehlenswert ist die Strecke an Tagen mit klarer Fernsicht. Der Blick auf den Brocken fasziniert immer wieder, gelegentlich kann man Hannovers Marktkirche sehen und fast immer die gewaltigen Industriebetriebe in Salzgitter.
Eine ausführliche Karte von der Tour zum Ausdrucken finden Sie unter www.hi-radtouren.de unter dem Punkt „Radtouren zum Nachfahren/HAZ-Radtouren“.